David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Buchrezension: Arno Wilhelm – Jack Rodman: Die ganze Wahrheit

Dass es die Geschichte vom Hauptmann von Köpenick, der sich aus einer puren Notlage heraus eine Uniform besorgte und es auf diese Weise vom armen Schuster zum angesehenen Offizier brachte, in den Grundkanon der europäischen Literaturgeschichte gebracht hat, nein, das ist natürlich kein Zufall. Denn so wahnwitzig die dramatisch bearbeitete Version von Carl Zuckmayer auch daherkommen mag, ja der Leser noch heute an manchen Stellen dem Gefühl erliegt, dass hier doch ein wenig arg konstruiert wurde mit dem Ziel eine möglichst feine Geschichte zu erzeugen – am Ende bildet der auf wahren Begebenheiten beruhende Plot nichts anderes ab als eine der Hauptessenzen menschlichen Zusammenlebens. Mit der eindrücklichen Pointe, dass kein Film und kein Buch derart erschütternd sind wie die Realität.

Auch der Berliner Autor Arno Wilhelm, der bisher hauptsächlich als Poetry Slammer reüssierte, begibt sich in seinem Debütroman „Jack Rodman – Die ganze Wahrheit“ in just dieses Spiel aus wahrem und fiktivem Ich, aus Heuchelei und Wahrheit, aus Großmannssucht und zeitgleicher Beschränktheit. Und beleuchtet damit genau jenes so bodenlose und doch menschliche Erfolgsstreben, das auch schon Zuckmayers Drama zu einem Standardwerk hat werden lassen. Ins Zentrum seiner aktualisierten Variante dieses „Hauptmann von Köpenick“-Themas bugsiert Wilhelm mit seinem Protagonisten Sven Heller dabei einen jungen Mann, den er als typischen Normalo in Szene setzt. Heller arbeitet seit Jahren als mittelmäßig bezahlter Bastelfreak in einem Elektroladen, wohnt in einer durchschnittlichen Gegend und in einer durchschnittlichen Wohnung, hat eine halbwegs hübsche Freundin und zupft in seiner Freizeit bevorzugt an seiner Akustikgitarre herum. Kurzum: Alles geht seinen furchtbar moderaten Gang, ganz ohne Ausschläge nach unten oder nach oben. Und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre erweist sich auch Heller selbst als einer jener netten und integren Typen, die in ihrer Beliebigkeit ganz fürchterlich zu versacken drohen, so dass es einzig und allein seiner etwas aufbrausenden Freundin Lara zu verdanken ist, dass er ab und an doch noch etwas Feuer unter den Hintern bekommt. So sumpft er sich ein wenig durch seinen Alltag – bis das Schicksal ihm in einem einzigen Handstreich und binnen weniger Stunden so ziemlich alles nimmt, was er bisher zu besitzen glaubte. In der Tat ist es ganz amüsant – oder wahlweise auch erschreckend – zu lesen wie Arno Wilhelm seiner gebeutelten Hauptfigur in kürzester Zeit erst den Job und dann auch noch die Freundin und die Wohnung nimmt, um ihn schließlich in einem furiosen Höhepunkt auch noch volltrunken auf die Straße latschen und von einem Auto überfahren zu lassen. Was den meisten Menschen in einem ganzen Leben nicht an Katastrophen widerfährt, genau das erlebt Sven Heller hier also als wüstes Stakkato. Eine vom Autor in seiner Vehemenz bewusst übertriebene Zuspitzung, die gerade durch diese unglaubliche Kumulation ihre Authentizität erhält. Denn auch wenn manch Realismus- und Plotfanatiker an dieser Stelle vielleicht etwas die Stirn runzeln mag – ganz in der Tradition dramatischer Erzählkunst gemahnt uns Wilhelm gerade durch diese Bündelung daran, dass wir tatsächlich nur dieses eine Leben haben. Und dass Verschwender und Versacker sich über kurz oder lang immer dem etwas übertriebenen Zorn ihres jeweiligen Gottes ausgesetzt sehen werden.
Selbstverständlich würde es diverse Schritte zu weit führen diesen Roman nun ins Fahrwasser hochintellektuell kathartischer Lesestoffe zu setzen. Denn gerade das würde dem Buch nicht gerecht werden, ist Arno Wilhelm doch in erster Linie ein Könner im Bereich der kurzweiligen und spannungsgeladenen Unterhaltung, der gesellschaftskritische und moraltheoretische Diskussionspunkte lieber kollateral setzt, anstatt sie gleich zum verkopften Hauptmotiv einer ganzen Erzählung aufzubauschen. Und doch ist es nicht viel weniger als ein fast schon berechtigtes Jüngstes Gericht, das da binnen weniger Stunden über Sven Heller kommt. Und dass ihn schließlich halbtot im Krankenhaus stranden lässt.
Und so liegt er also mit einem Male da, mit einer Persönlichkeit, die sich durch die vielen Verluste einfach nicht mehr definieren lassen will und somit mehr Tabula Rasa bietet als denn eine Form von Ich. Ein schwerer Schicksalsschlag, keine Frage, doch die beste aller Möglichkeiten einen kompletten Neuanfang zu starten. Sein bisheriges Leben zu überdenken und all die Träume und Sehnsüchte, die bisher so verschüttet schienen, an die Oberfläche zu zerren.

An genau dieser Stelle wählt Wilhelm nun einen etwas anderen Ansatz als ein Zuckmayer es dereinst tat, denn die verlorene Gestalt, die jener Schuster Voigt bei Zuckmayer gewesen ist, ist Sven Heller zu keinem Zeitpunkt von Wilhelms Erzählung. Denn genau dort, wo der Schuster zwischen diversen unerfüllbaren Anforderungen seiner Zeit schlichtweg zerdrückt zu werden drohte, so dass er gar nicht mehr anders konnte als sich eine Uniform zu schnappen und als falscher Offizier aufzulaufen, liegt vor Heller die komplette Freiheit, um nicht zu sagen: Leichtigkeit. Seine Versicherungen machen trotz Wohnungsbrand und Horrorunfall keinerlei Probleme, auch seine finanziellen Ersparnisse sind groß genug, um für allerlei Dinge immer genügend Geld auf der hohen Kante zu haben. Und obwohl eher ein Einzelgänger sind auch stets Leute in Griffnähe, die er um einen Gefallen bitten kann. Für jemanden, der im Grunde also doch total am Ende sein müsste, kann Heller bemerkenswert frei aufspielen, greifen bei ihm diverse glückliche Fügungen doch immer direkt ineinander. Es ist ganz fraglos Wilhelms erzählerischem Geschick zu verdanken, dass er gerade diesen etwas fragwürdigen Punkt doch tatsächlich als hochwirksamen Kniff inszeniert bekommt. Einen Kniff, wie wir ihn zum Beispiel auch aus Woody Allens jüngerem Meisterwerk „Matchpoint“ kennen, in dem die Hauptfigur ebenfalls ein vom Glück verfolgter Günstling ist, dessen moralisch fragwürdiges Verhalten sich erst vor dem Hintergrund eines solchen unfassbaren Glücks besonders demaskiert zeigen kann. Exakt eine solche Figur ist denn auch Heller, dem allem temporären Unglück zum Trotz denn doch einfach alles ziemlich günstig in den Schoß fallen will.

Und so liegt er also mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus, hat die Schnauze voll von seinen bisherigen Leben – und ersinnt sich ein Alter Ego namens Jack Rodman. Einen amerikanischen Musiker, den er als jemanden konzipiert, der bereits viel Erfolg in den Staaten hat und nun nach Deutschland kommt, um auch hier mit seinen Songs Gehör zu finden. Bemerkenswert wie plausibel Arno Wilhelm hier aufzeigt, dass Berühmtheit schon lange kein Zufall mehr sein muss und sich selbst die kommerziell erfolgreichen Musikkarrieren von durchschnittlich relevanten Typen problemlos am Laptop durchplanen lassen. Auf Details soll an dieser Stelle bewusst verzichtet werden, doch gerade der Umstand, dass Arno Wilhelm bei der Erfindung und der anschließenden artifiziellen und kommerziellen Inthronisierung auf eine Fülle an für Jedermann zu recherchierenden (und umzusetzenden) „Hardfacts“ zurückgreift, erschreckt und begeistert zugleich. Nach und nach füllt der im Krankenhaus ans Bett gefesselte Sven Heller seine Kreatur, den Musiker Jack Rodman, also mit Leben, während Autor Arno Wilhelm parallel dazu nicht nur die Möglichkeiten unserer längst virtuell gewordenen Welt auslotet, sondern uns vor allem unseren längst von statten gegangenen Paradigmenwechsel in puncto Glaubwürdigkeit vor Augen führt. Denn spätestens wenn der Leser zusammen mit Sven Heller feststellen muss, dass sein erfundener Singer/Songwriter Jack Rodman Unmengen an Fans generiert, Angebote von hervorragenden Managern erhält und sogar auf Tour gehen darf, stellen wir fest, dass unbemerkt ein Zeitenwechsel in unserer Gesellschaft stattgefunden hat. Denn vorbei sind die Zeiten, in denen es an uns, der zuhörenden Masse lag, einen Künstler zum Star werden zu lassen. Der natürliche, auf Talent und Ausstrahlung basierende Selektionsvorgang, er ist ersetzt worden durch die Gesetze des Marketing. Mit dem Star, der durchkonzipiert und als „gegeben“ an den Anfang gestellt wird. Und der lukrativen Fanschar, die jenseits jeglicher Qualitätskontrolle nur noch verdammt dazu ist atemlos hinterher zu hetzen.

Die nun nachfolgenden auf Sven Heller einprasselnden Irrungen und Wirrungen im Detail nachzuerzählen soll an dieser Stelle natürlich tunlichst unterlassen werden, lohnt es doch tatsächlich nachzulesen, wie Wilhelm seinen Protagonisten Heller/Rodman in einen Strudel schickt, der ihn ausgerechnet mit ansteigendem Erfolg immer weiter abwärts zieht, bis er sich schließlich in einer Spirale aus Gewalt und sich immer weiter auftürmenden Lügen wiederfindet. Gerade hier zeigt Arno Wilhelm, dass vor allem im Bereich des gewaltaffinen Thrillers seine eigentliche schriftstellerische Zukunft liegen könnte, verknotet er in seinem „Jack Rodman“ doch gekonnt Verfolgungswahn, Rücksichtslosigkeit, Erpressung und Mord. Besonders die Figur von Sven Hellers Ex-Freundin Lara, die angesichts von Geld und Ruhm einem wahren Blut- und Rachengel mutiert, gelingt Wilhelm so ausnehmend gut, dass der Leser mitunter glaubt Tarantino aus der Ferne winken zu sehen.

Nachvollziehbar, dass bei dieser vor allem auf Unterhaltung angelegten und Thriller ähnlichen Auseinandersetzung um Schuld und Sühne diverse psychologische Erzählchancen ein wenig auf der Strecke bleiben. Denn in der Tat hätte es den Roman wohl ein wenig überfrachtet auch noch das semi-schizoide Chaos abzubilden, in dem sich ein Mensch wie Sven Heller doch zwangsläufig befinden muss. Dabei hat Arno Wilhelm die Anlagen zu einer solchen psychologischen Analyse der Selbstverleugnung wahrlich hervorragend gesetzt, sich dann jedoch dazu entschlossen diesen Strang in dem von ihm gewählten Rahmen nicht weiter zu verfolgen. Und so darf die Welt zwar nicht erfahren, dass der erfolgreiche Musiker Jack Rodman nur ein Kunstprodukt ist, hinter dem ein Scharlatan namens Sven Heller steckt. Was diese frappierende Situation der permanenten Selbstverleugnung jedoch mental aus einem Menschen macht, das umschifft Arno Wilhelm großzügig. Mit einigem Recht, wie an dieser Stelle angefügt werden soll, hätte eine solche tiefenpsychologische Auseinandersetzung doch mit Sicherheit nicht nur den Rahmen, sondern auch das von Wilhelm gewählte Genre gesprengt. So also versteht Heller es in Wilhelms Roman problemlos seine beiden Persönlichkeiten wie auf Knopfdruck voneinander zu trennen ganz ohne dabei mentalen Schaden zu nehmen. Selbst der vom Autor zu Beginn perfekt eingebaute und so signifikant mögliche Stolperstein – ein angebliches Gesichts-Tattoo, das sich Heller immer wieder neu aufmalen muss, bevor er als Rodman losmarschiert – wird dementsprechend konsequent irgendwann einfach gar nicht mehr erwähnt. Nicht einmal, als Jack Rodman im Beisein von Fans schwitzt, duscht und sich diverse Blessuren im Gesicht überschminken lässt.

Fazit: Ein atemloser, ausnehmend flüssig erzählter Roman, der es gekonnt versteht Anteile von Thriller, Roadmovie und moderner Moral- und Gesellschaftskritik zu verweben. Pluspunkte gibt es für die Konsequenz, mit der Autor und Verlag dem Leser das Konzept des Retortenstars vorführen, sei es in Form der gut recherchierten „Zutaten“ von Arno Wilhelm oder den vom Verlag beigefügten professionellen Künstlerfotos von Jack Rodman und – man lese und staune – sogar einer dem Roman beiliegenden EP mit ersten Rodman-Songs. Ein Gesamtpaket, das gekrönt wird durch den Leser, der gar nicht umhin kommt abschließend auch seinen eigenen moraltheoretischen Kunstansatz zu hinterfragen. Und somit Position zu beziehen.

Homepage: www.jackrodman.com
Facebook: www.facebook.com/rodman.jack
Twitter: www.twitter.com/rodmanjack

Text: David Wonschewski

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 14. August 2012 von in Journalist, Rezensionen und getaggt mit , , , , , , , , , , , , , .

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